Hamburg

Die Idee hat Tradition: Bringe mehrere Musikerinnen und Musiker auf eine gemeinsame Konzertbühne und lasse sie in verschiedenen Ensemble-Konstellationen miteinander improvisieren. Der kompositorische Aspekt beschränkt sich auf die Auswahl der Improvisatoren (inklusive deren jeweiligen musikalischen Ausdrucksweisen und Intentionen) und auf die Zusammenstellung der einzelnen Besetzungen. Alles andere entsteht im Augenblick, ist improvisiert. Von den Musikern verlangt das ein Höchstmaß an Konzentration und Risikobereitschaft. Doch so traditionsreich die Idee auch ist, der Free-Music-Pionier Derek Bailey veranstaltet seine Company Weeks seit zwei Jahrzehnten; sie wird nicht allzu häufig praktiziert. Die improvisierenden Musiker erarbeiten sich ihre Konzepte des Zusammenspiels heute lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dem Publikum präsentieren sie dann eine abgesicherte, wohlerprobte Improvisationsmusik, aus der die Gefahr des Scheiterns, damit aber auch der Kitzel des Risikos, nahezu ausgeschlossen sind. Dahinter steht nicht unbedingt nur die Furcht vor dem Misslingen unvorbereiteter musikalischer Begegnungen, sondern auch der Zweifel, ob der Improvisationsprozess für die Hörer überhaupt nachvollziehbar und von Bedeutung sein kann. Die Hamburger Trompeterin Birgit Ulher und der Perkussionist Wolfgang Ritthoff gehören zu den Musikern, die am Gedanken festhalten, dass das improvisatorische Entstehen von freier Musik durchaus von außen in Realzeit miterlebt werden kann und für die Zuhörer genau so fesselnd ist wie für die Improvisatoren selbst. Zu ihrem Real Time Music Meeting luden sie Mitte Oktober Musikerinnen und Musiker aus der Schweiz, aus England und aus Deutschland an zwei Konzertabenden auf die Bühne einer Hamburger Galerie.

Der Improvisationsprozess beginnt vorsichtig, tastend. Noch ist die Musik brüchig, kantig und so heterogen wie die Materialien und Interessen der einzelnen Improvisatoren. Doch es wird konzentriert gehört, gespielt, gearbeitet. Die Musiker suchen gegenseitige Anknüpfungspunkte – und treffen sich anfangs nicht selten beim berüchtigten kleinsten gemeinsamen Nenner: bei Minimalismen, repetitiven Strukturen oder in sich kreisenden Klangflächen. Doch diese Stereotypen auch die sogenannte freie Musik kennt ihre Klischees und Sicherheiten werden immer stärker aufgebrochen. Die Musik entfaltet ihre kontrastreiche Spannung, ihre energetische Intensität und ihren mehrdimensionalen Klangreichtum: aufregend Neues entsteht vor allem in den kleineren Besetzungen, bei denen viel stärker als im Tutti-Ensemble die Eigenheiten und Persönlichkeiten der einzelnen Musikerinnen und Musiker im Mittelpunkt stehen.

Da sind zunächst die beiden Vokalistinnen: Ute Wassermann mit filigranen Klängen, vom Näseln, Gurren bis zu klassischen Vokalismen. Marianne Schuppe, die frechere der beiden, experimentiert zudem mit Fantasiesprachen und assoziativen Stimmgeräuschen. John Butcher, der Londoner Sound-Researcher, nähert sich den Sängerinnen mit subtilen Saxophonsounds: mit Schnarren und Schnalzen, mit Mehrklängen und in sich kräuselnden Klangnuancen. Es ist faszinierend, mit welcher Imaginationskraft und Risikobereitschaft Butcher sein Spiel den jeweiligen Instrumentalpartnern annähert.

Durch instrumentale Innovationen befreit er den Saxophonsound zu einer neuen Identität und integriert ihn zugleich einfühlsam in den jeweiligen Ensembleklang. So im Trio mit dem Schweizer Live-Elektroniker Norbert Möslang und dem Hamburger Perkussionisten Wolfgang Ritthoff. Möslang recycelt die Wegwerf-Sounds von elektronischen Spielzeuginstrumenten.

Er verfremdet sie, stellt sie in neue musikalische Kontexte, vermischt sie mit elektrischen Störgeräuschen und Interferenzen, die entstehen, wenn man z.B. die Signale einer Spielzeug-Fernbedienung mit einem Radioempfänger hörbar macht. Ritthoff integriert die Klangeigenschaften der unterschiedlichsten Materialien - Plastikfolien, Schleifpapiere, Glasmurmeln - in die subtile und äußerst differenzierte Improvisationssprache seines Schlagzeugspiels. Gemeinsam eröffnen Butcher, Möslang und Ritthoff eine imaginäre Klangwelt von hypnotisierender Intensität und Schönheit. Was Butcher mit dem Saxophonklang gelingt, praktiziert Birgit Ulher auf der Trompete. Es gibt in der zeitgenössischen Improvisationsmusik wenig Trompeter, die die Ausdrucksmöglichkeiten dieses Instruments so zielstrebig und virtuos in neue Bereiche vorantreiben wie die Hamburger Musikerin. Ulhers reduziertes und doch sehr ausdrucksstarkes Spiel beeindruckte vor allem in einer Trio-Besetzung mit John Butcher und dem Züricher Cellisten Alfred Zimmerlin, das den Bogen von geräuschhaftem Spiel zum intensiven, linear verzahnten Powerplay (mit Walking Cello) und zurück zum Ausgangspunkt des instrumentalen Atems schlug. Ähnlich wie Zimmerlin spielt auch die in Frankfurt lebende Posaunistin Annemarie Roelofs bewusst mit Bruchstücken aus anderen musikalischen Genres, vor allem aus der europäischen Tradition. Leider ziehen diese Zitate die Aufmerksamkeit manchmal allzu vordergründig auf sich und beeinträchtigen dadurch die das Hören befreiende Polyperspektivität des vielschichtigen Improvisationsgeschehens. Doch das war nur ein kleiner Wermutstropfen angesichts des großen musikalischen Reichtums, der sich während eines spannenden und ereignisreichen Improvisatoren-Meetings in Realzeit entfaltete.

Martin Pfleiderer

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